Was ist Spiritualität? – Interview mit Dr. Joachim Galuska

Bereits seit der Gründung der Heiligenfeld Kliniken im Jahr 1990 ist Spiritualität fester Bestandteil der Unternehmensphilosophie. Als eine der wenigen Kliniken in Deutschland ist Spiritualität sogar in den Werten verankert. Doch was versteht man eigentlich darunter? Dr. Joachim Galuska, einer der beiden Gründer der Heiligenfeld Kliniken, hat mir zu diesem großen Thema ein Interview gegeben.

Was bedeutet für Sie der Begriff “Spiritualität”?

Unter Spiritualität verstehe ich den persönlichen Bezug zu allem, was uns als Menschen und unser Dasein überschreitet. Damit meine ich den individuell erfahrbaren Bezug zur Transzendenz, zum Größeren, Unbekannten, zum Göttlichen oder Heiligen. Hierfür gibt es unterschiedliche Begrifflichkeiten.

Gehört Religiosität demnach auch zur Spiritualität?

Religiosität wäre eher der Glaube daran, also dass man Glaubensvorstellungen dazu entwickelt oder zu einem Glaubenssystem gehört. Spiritualität ist immer der Versuch, es zu erfahren, also einen inneren Erfahrungsbezug herzustellen, zu dem, was über das Alltägliche hinausgeht. Normalerweise leben wir – ohne es zu merken – in bestimmten Vorstellungen über die Welt. Wir schaffen uns eigene Überzeugungen über die Welt, deren Sinn, über den Sinn unseres Lebens und unsere Ziele. Daraus bauen wir unser inneres Konzept auf, nach dem wir leben. Der Philosoph Metzinger nennt das den “Ego-Tunnel” – einen Tunnel aus eigenen Überzeugungen, in dem wir leben, ohne zu merken, dass die Welt und die Wirklichkeit viel größer sind als wir denken.

Gibt es spirituelle Erfahrungen in unserem Alltag?

Ja, natürlich! Eine einfache spirituelle Erfahrung ist zum Beispiel der Blick in den abendlichen Sternenhimmel. In eine Welt, die wir nicht selbst geschaffen haben. Durch das Bewusstwerden über die unendliche Weite des Weltraums erlangt man bereits ein Gefühl, was das Alltägliche überschreitet. Deswegen haben viele Menschen, die abends in den Himmel schauen, ein spirituelles Erlebnis, da sie sich plötzlich in einem größeren Zusammenhang sehen. Natürlich ist das auch etwas Diesseitiges, aber es überschreitet auch unser Verständnis. Zwar können wir das Universum erklären und erforschen, aber es gibt dennoch viel Unerklärliches und Unbekanntes. Das gibt es aber nicht nur im Weltraum, sondern das ist jeden Tag und jeden Moment da.

Wie meinen Sie das?

Eigentlich ist jeder Mensch, gegenüber dem wir uns öffnen, ein spirituelles Erlebnis, weil er mehr ist als das, was wir uns über ihn vorstellen. Wir denken z. B. “Der Thomas, der ist extrovertiert, machthungrig und ihm ist nur Geld wichtig”. Oder “Der Thomas ist sensibel, hat keine Lust sich zu engagieren und lebt in seiner eigenen Welt”. Aber ist er das wirklich? Ist ein Mensch so einfach zu kategorisieren oder ist er mehr als nur die Summe seiner Eigenschaften? Jeder Mensch ist ein Wunder, das können wir jedoch nur begrenzt erfassen. Wenn man sich öffnet, kann die Erfahrung mit dem Unfassbaren in einem Menschen oder in der Natur zu einem tieferen Erlebnis werden und wir werden frei und offen für das Andere. Die Wirklichkeit ist eben nicht so begrenzt, wie ich sie mir vorstelle. Das Unbekannte strahlt durch die alltägliche Wirklichkeit hindurch. Die Bereitschaft dazu bedeutet Spiritualität. Offenheit ist dabei ganz wichtig; so kann man Spiritualität auch in seinem tiefsten Inneren finden. Der klassische Weg dazu ist die Meditation.

Was kann man tun, wenn man sich durch spirituelle Erfahrungen unwohl fühlt?

Angst ist eine Folge der Identitätsüberschreitung. Der Mensch hält sich in der Welt und an den eigenen Meinungen und den Konzepten fest. Der eigene Tunnel wird immer weiter ausgebaut. Das soll uns Sicherheit geben. Man glaubt, das ist alles, und deswegen macht es einem Angst, sich dem Unvertrauten zuzuwenden. Wir Menschen können nicht alles unter Kontrolle bekommen, und dieser Kontrollverlust macht oft Angst. Das härteste Beispiel dafür ist der Tod: Er ist unkontrollierbar und wird irgendwann eintreten. Das halten wir uns allerdings nicht vor Augen. Diese Tatsache macht uns aber Angst, da uns der Tod individuell beendet. Alles, was uns überschreitet oder beendet, verängstigt uns, weil es den Verlust von Konzepten und Planungen bedeutet. Das kann sich jede und jeder einfach mal selbst fragen: “Wenn ich nur noch heute zu leben hätte, würde ich das dann so tun, wie ich es gerade tue?” Dann kann man sich für eine größere Wirklichkeit öffnen, die uns auch trägt.

Spiritualität bedeutet immer einen Verlust von Konzepten, aber gleichzeitig auch den Gewinn eines größeren Ganzen, zu dem wir uns zugehörig fühlen. Menschen, die dem Tod nahe sind, erleben die Tatsache, dass es da noch etwas Größeres gibt, als tröstlich. Die Erfahrungen sind jedoch fast unbeschreiblich – Spiritualität ist bereit dazu, durch die Beschreibungen zu gehen.

Sie haben Spiritualität bereits von Anfang an in Ihr Klinikkonzept integriert. Sind Sie damit auf Probleme gestoßen?

Dieses Thema war schon in den 1960er bis 80er Jahren sehr wichtig, da die Gesellschaft immer mehr mit alten Regeln gebrochen und sich eine Selbsterfahrungswelle gezeigt hat. Spiritualität war ein Teil der ganzen damaligen Bewegung und Erweiterung. Aktuell kommt das Thema wieder stärker auf als zu der Zeit, als Heiligenfeld gegründet wurde. Wir haben das Thema Spiritualität ja schon 1990 in unser Therapieprogramm und unsere Unternehmensführung integriert. Damals waren allerdings nicht substanziell begreifbare Dinge für Viele nicht bedeutend, weil eher ein materialistisches Weltbild vorherrschte. Das gilt auch bis heute. Wir wurden und werden manchmal aufgrund der Tatsache, dass wir versuchen, mehr in die Therapie zu integrieren als nur das objektiv Greifbare, immer noch in eine negative Ecke gestellt. Daher haben wir verstärkt neutrale Begriffe wie Bewusstsein oder Achtsamkeit verwendet. Mittlerweile findet aber auch hier eine Öffnung statt. Spiritualität ist im Grunde die Arbeit am eigenen Bewusstsein, am eigenen spirituellen Weg.

Welche Auswirkungen hat Spiritualität auf unsere Gesellschaft?

Der einzelne Mensch, aber auch die ganze Welt kann verändert und gestaltet werden. Dabei sollten nicht nur materielle oder egoistische Motive eine Rolle spielen, wie es das bei manchen Menschen in Wirtschaft oder Politik tut. Deshalb denke ich, dass es eine Bewusstseinsentwicklung, eine Art Erwachen in der Gesellschaft und Kultur geben müsste, und wir sind langsam auf dem Weg dahin. Eigentlich ist auch das schon ein spiritueller Akt. Die Gesellschaft muss erkennen, welche Werte sie leitet und wofür Medien und Wirtschaft beispielsweise da sind.

Warum wird Spiritualität aktuell wieder zum Thema?

Gerade in der aktuellen Zeit dienen wir Menschen mehr und mehr den Medien. Müsste es aber nicht eigentlich umgekehrt sein? Wir verlieren uns in unseren Smartphones und Tablets, leben immer mehr in der digitalen statt in der realen Welt und verlieren den Kontakt zu unseren innersten Werten. Gerade in der Therapie unserer Patientinnen und Patienten stellen wir das immer wieder fest. Und im Gegenzug gibt es immer mehr Menschen, die verstehen, dass uns dieses Hamsterrad krank machen kann. Sie besinnen sich auf sich selbst und ihr Innerstes. Und hier kommt die Spiritualität ins Spiel. Wir haben nicht die Bedeutung, die wir glauben zu haben. Diese Tatsache relativiert uns einerseits, aber andererseits gibt es uns auch einen Platz in dem großen und ganzen Gefüge.

Gilt das auch für das häufig benutzte Wort der “Achtsamkeit”?

Mittlerweile sind Werte wie Achtsamkeit wieder verstärkt anzutreffen, solche Dinge zählen aktuell zum Main Stream. Sie sind jetzt wieder aktueller, weil die Globalisierung zeigt, wie wir die gesamte Welt gestalten und weil die Antworten des Materialismus unglaubwürdig geworden sind. Das erkennen die Menschen immer mehr. Wir brauchen andere Dinge um weiter zu kommen als den Glauben an eine Technologisierung. Die mediale Welt ist flach, dort findet zwar Informationsverteilung, aber keine Bewusstseinsbildung statt. Da spüren die Menschen, dass es mehr gibt. Es gibt eine neue Suche oder zumindest eine Bereitschaft zur Innenschau.

Unser aktueller Lebensstil zerrüttet soziale Bindungen, um besonders viel Flexibilität zu erhalten. Die Empfindlichkeit gegenüber schicksalhaften Ereignissen ist deshalb größer als früher, da der soziale Zusammenhalt nicht mehr so gegeben ist. Erkrankte man früher schwer, war die ganze Familie da, um einen zu versorgen. Heute sind wir oft allein und können mit solchen Schicksalsschlägen nicht mehr umgehen. Einfache logische Antworten auf existentielle Fragen sind für die Menschen nicht mehr befriedigend, deshalb gibt es eine neue Offenheit gegenüber Spiritualität.

Wenn ich nun versuchen möchte, mehr Spiritualität in meinen Alltag einzubauen: Wie könnte ich als eher Unerfahrener beginnen?

Gut wäre es sicherlich, erst einmal den Mut zu finden, immer mal wieder – und sei es für wenige Minuten, oder auch mal für ein bis zwei Stunden – eine Lücke herzustellen in dem was man tut und einfach mal zu versuchen, darüber nachzudenken, was einem wirklich wichtig ist. Damit unterbreche ich meinen Alltag und beschäftige mich damit, ob das, was ich tue, mir wirklich am Herzen liegt und frage mich, was mir wirklich wichtig ist.

Oder ich kann am Wochenende mal darüber nachdenken: Habe ich in der Woche wirklich das getan, was mir wichtig ist? Ein Beispiel könnte hier der vielbeschäftigte Manager sein, der auf die Frage, was ihm wichtig ist, “Zeit mit der Familie” antwortet, aber gleichzeitig fünfzig bis sechzig Stunden pro Woche arbeitet.

Ich könnte auch einmal darüber nachdenken, welche Momente unter der Woche gut waren und für was ich dankbar bin. Dann könnte ich mir diese Momente anschauen und überlegen, was ich überhaupt für “gut” halte. Oft sind das ganz andere Momente als die, die ich vielleicht so anstrebe. Beispiele dafür können gute Gespräche mit Freunden, dem Partner oder der Familie oder ein schönes Erlebnis in der Natur sein. Oft kann man feststellen, dass etwas ganz anderes wichtig ist, als die Werte, die einem von außen vorgegaukelt werden. So kann man herausfinden, was einen glücklich und dankbar macht.

Was habe ich dann davon?

Ich werde schnell feststellen, dass mir unter der Woche mehr gegeben wurde, als ich so denke. Normalerweise hat man an seiner Situation immer etwas auszusetzen: “Ich könnte mehr Geld verdienen, mehr Freunde oder einen besseren Arbeitsplatz haben.” Aber wenn man mal auf die positiven Seiten achtet, kann das einiges verändern. Zum Beispiel könnte man denken: “Schön, dass mein Geld zu einem guten Leben reicht. Ich habe zwar nicht so viele, aber dafür sehr gute Freunde. Mein Arbeitgeber macht dies und das Gute für mich. Wenn es hart auf hart kommt, ist mein Partner immer für mich da”. Hierdurch kann man vielleicht eine andere Einstellung zu seinem Leben bekommen.

Die Lücken, in denen ich innehalte und versuche, nach etwas Wertvollem zu schauen, sind sehr sinnvoll. Oft hilft es schon, einfach Stille herzustellen, indem man beispielsweise das Radio ausschaltet, ruhig wird und in die Stille lauscht. Vielleicht entdeckt man dann erst etwas, das man sonst nicht entdeckt hätte.

Das sind die einfachen Möglichkeiten, eine Lücke herzustellen.

Und was käme, wenn ich es geschafft habe, öfter mal innezuhalten?

Der nächste Schritt wäre, etwas wie Achtsamkeit zu üben. Was bedeutet es, wenn ich Achtsamkeit in meinen Alltag integriere? Sei es in der Lücke, sei es in kleinen Achtsamkeitselementen, die ich in meinen Alltag bringe. Schon in kleinen Übungen kann man die Achtsamkeit in sein Leben integrieren, z. B. indem man versucht, eine Situation genau zu fühlen oder zu erleben. So kann man im Kleinen versuchen, sein Leben achtsamer zu führen. Das kann man im Anschluss auch ins Größere übertragen. Dann stellt man schnell fest, dass man Ordnung und Ruhe in seine Gedanken bringen muss. Danach kann man es mit einer Übung versuchen und sich beispielsweise auf etwas konzentrieren, um die Achtsamkeit zu trainieren, z. B. ein bestimmtes Lebensmittel mal bewusst wahrzunehmen, wie es sich eigentlich im Mund anfühlt, schmeckt etc. Wenn man den Tisch z. B. achtsam deckt, wird man merken, dass man ihn schöner und liebevoller eindeckt, als wenn man es nebenbei macht. Hört sich vielleicht komisch an, aber man kann es ja mal ausprobieren. So kommt man immer mehr auf den Weg.

Jetzt noch eine persönliche Frage: Haben Sie es geschafft, das alles in Ihren Alltag als Leiter eines Unternehmens mit fast 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu integrieren?

(lächelt) Natürlich habe ich es geschafft und gleichzeitig auch nicht geschafft. Auch ich bin ein Mensch, der immer wieder merkt, dass er sich in Alltäglichkeiten verliert. Ich bin sicher auch nicht permanent achtsam, aber ich versuche immer wieder, aufzuwachen. In meinem beruflichen Alltag gab es viele Elemente, die mich automatisch daran erinnerten. Beispiele sind etwa die Anfänge von Besprechungen, bei denen wir versuchten, mit Sprüchen oder Texten Lebensweisheiten einzubringen, um anders zu starten als mit dem ersten Tagesordnungspunkt. Oder die Zimbel, die immer ein anderes Teammitglied hatte, um durch den Ton alle Besprechungsteilnehmer zum Schweigen zu bringen, wenn er das Gefühl hatte, jetzt wäre es sinnvoll. Da merkte man oft erst einmal, wie hitzig z. B. Diskussionen geführt wurden. Nach der Zimbel-Pause ging es oft viel ruhiger weiter. Das waren so kleine Rituale, die mich immer wieder aufwachen ließen.

Oder wenn ich Teilnehmer bei einer Veranstaltung war, konnte es auch passieren, dass ich aus dem Geschehen ausgestiegen bin und die Dinge auf mich habe wirken lassen, um eine Öffnung zu wagen. Dann habe ich versucht zu schauen, ob eine Debatte in dem Moment wesentlich oder unwichtig ist. Manchmal muss man sich nämlich zurückbesinnen, ob man zu sehr einem Schema folgt und einfach aus dem Schema herausspringen. Das ist wie ein spirituelles Erlebnis. Manchmal haben mich die Leute gefragt, wie ich in Besprechungen auf meine Ideen komme. Das liegt hauptsächlich daran, dass ich die Situation auf mich wirken lasse, offen bin und dann meiner Intuition folge.

Vielen Dank für das Gespräch!

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5 Antworten

  1. Danke für das wirklich schöne Interview!
    Es tut gut zu lesen, dass auch so erfahrene Menschen wie Herr Galuska es nicht immer schaffen, achtsam zu sein. Das doch schwierige Thema finde ich gut erklärt.
    Viele Grüße nach Bad Kissingen
    I. Barth

  2. “Wie der Herr so sein G’scherr”, lautet ein altes Sprichwort.
    Wie sollte den die Klinik Heiligenfeld erfolgreich im Sinne ihrer Zielsetzungen
    sein, wenn nicht an der Spitze ein Mensch steht, der ein tiefes Verständnis
    von “Psyche” und “Seele” hat, der diesen “Spirit” an das Unternehmen weitergibt
    und in ihm wirken läßt?
    Laßt uns dankbar und froh sein, daß es (noch) solche Unternehmer gibt.

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