In Europa herrscht Krieg und die gesamte Welt befindet sich in einem globalen Schockzustand. Auf eine bereits erschöpfte Nation treffen Kriegsangst und traumatisierende Bilder von der Flucht der Menschen. Das alles kann zu Angst und Panik führen. Schlafstörungen, Angststörungen oder Depression können die Folge sein. Doch was kann man gegen die aufkommende Angst tun? Dr. Hans-Peter Selmaier ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse sowie für Innere Medizin. Als Chefarzt leitet er die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen. Im Interview gibt er Tipps zur Selbstregulation und erklärt, warum uns die Angst gerade jetzt besonders trifft.
Was kann der aktuelle Ukraine-Konflikt bei uns Menschen auslösen und warum?
Hans-Peter Selmaier: Wir nehmen auf alle Fälle eine schwere historische akute internationale Krise mit traumatischem Charakter wahr. Weltpolitische Krisen wirken über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus und tragen die Gefahr einer globalen Eskalation in sich. Sie können in unterschiedlichem Umfang die ganze Welt betreffen, bis hin zu einem 3. Weltkrieg. Das geschieht zeitlich im Anschluss an die noch weiterbestehende Covid 19-Pandemie mit all ihren unbewältigten und noch nicht absehbaren Folgen. Es entsteht sowohl für den Einzelnen als auch für die menschliche Gemeinschaft eine enorme Stressbelastung und Traumatisierung von kumulativem Charakter mit massivem Ressourcenverbrauch. Zu einem individuellem Burnout kam der Corona-Burnout und nun vielleicht noch ein Kriegs-Burnout?
Und warum trifft es uns jetzt besonders stark, wo doch schon immer Krisen und Kriege irgendwo in der Welt herrschen?
Hans-Peter Selmaier: Zur Stressbelastung droht gleichzeitig zumindest in unserer Phantasie eine gewaltige Katastrophe, bis hin zu Verderben und grausamen Tod in einer atomaren Apokalypse oder ein wirtschaftlicher bzw. finanzieller Untergang bis hin zu Armut, Hunger und Kälte, ja Plünderung und Mord und Barbarei. Völlige Entmenschlichung könnte eintreten. Der Ablauf ist nicht verstehbar, handhabbar und auch ohne erkennbaren Sinn. Es läuft eine ausgeprägte destruktiv-autodestruktive Dynamik intrapsychisch und interpersonell ab. Gegenwärtige Generationen sind durch den in Europa herrschenden Frieden nach zwischenzeitlicher Beendigung des Ost-West-Konflikts und der daraus resultierenden Pseudosicherheit auf einen solchen Einbruch, auf einen Verlust der Bodens nicht vorbereitet. So wichtig eine eigene friedvolle bzw. pazifistische Einstellung generell ist, so ist umgekehrt nicht davon auszugehen, dass andere dieselbe Haltung haben. Jetzt ist die Bedrohung im Gegensatz zu anderen Kriegen außerdem sehr nah und unmittelbar, so dass Verdrängung und Verleugnung nicht mehr funktionieren und die eigene Abwehr versagt. Infragestellt wird das Bild vom Menschen, der Welt, der Ordnung der Dinge und vielleicht auch von Gott. Kontrollierbarkeit besteht nicht, Abhilfen erscheinen nicht möglich. Eigene innere oder externe Ressourcen stehen zumindest nicht ausreichend zur Verfügung. Im Rahmen chronischen Stresses ist es bereits zur Erschöpfung gekommen. Auch die Ich-Stärke erleidet Schaden; es drohen individuelle und gesellschaftliche Regressionen. Melanie Klein spricht in diesem Zusammenhang von einer „paranoiden Position“.
Auf diesem Boden können vor allem akute Belastungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, einschließlich Trauerreaktionen, depressive und Angststörungen, somatoforme und dissoziative Störungen und ein Anstieg der Suizidalität entstehen. Auch psychotische Einbrüche sind bei entsprechender Vulnerabilität möglich. Ergänzend kann es zur Fehlkompensation durch missbräuchliches und süchtiges Verhalten kommen, ob stoffgebunden oder nicht. Auch aggressive und destruktive Verhaltensweisen erhalten Aufschwung und verstärken die Bedrohlichkeit der Situation.
Wer ist davon besonders betroffen? Kann es jeden treffen?
Hans-Peter Selmaier: Menschen mit erhöhter Vulnerabilität, Ressourcenmangel und verminderter Resilienz sind besonders betroffen. Das sind vor allem Menschen mit bereits früher abgelaufenen oder derzeit weiter bestehenden psychischen, psychosomatischen und Suchterkrankungen. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen und chronischen Psychosen oder beginnender demenzieller Entwicklung weisen z. B. eine verminderte Flexibilität und Umstellungsfähigkeit auf. Hinzu kommen Menschen mit unterschiedlichen Formen erlebter Traumatisierung und früheren emotionalen Mangelzuständen und daraus resultierender Instabilität und Brüchigkeit. Situationen, die Menschen aus instabilen Familienverhältnissen erlebt haben, wirken negativ nach. Neue Belastungen werden dann zum Trigger mit Reaktivierung alter mehr oder weniger unverarbeiteter Erfahrungen, insbesondere von allen Formen von Gewalt. Aber auch ungelöste eigene Konflikte im Zusammenhang mit Aggressivität und deren ängstlicher Unterdrückung können aufflackern. Zu einem früheren Mangel oder erfahrenen Verlusten droht ein Neuer oder findet bereits statt. Auch transgenerationale Traumatisierungen können eine Rolle spielen wie aus der Zeit des Nationalsozialismus, sowie Weltkriegs-, Vertreibungs- und Verfolgungserfahrungen. Außerdem wirken auch noch Erfahrungen in russischer Kriegsgefangenschaft und in Zusammenhang mit der Teilung Deutschlands einschließlich Mauerbau, Kaltem Krieg, sowie der Unterdrückung, Verfolgung und Gefängniserfahrungen in der DDR. Unmittelbar haben diese Erlebnisse alte Menschen noch präsent. Ältere einsame und chronisch kranke Menschen sind sicher besonders betroffen; das gilt auch für sozial benachteiligte, arme Menschen und solche mit prekären Beschäftigungen. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders gefährdet. Letztlich kann es aber jeden von uns treffen. Einen gewissen Schutz stellen umgekehrt ein gesunder Lebensstil, Resilienz und Ressourcenreichtum, Verbundenheit mit anderen und Spiritualität und Religiosität dar.
Welchen Zusammenhang gibt es mit den Belastungen durch die Corona-Zeit?
Hans-Peter Selmaier: Auch Corona stellte und stellt sich als wenig kontrollierbare Gefahr und Bedrohung des Einzelnen, der Angehörigen und der Gesellschaft dar. Ausmaß und Verlauf der Erkrankung und ihrer Folgenerscheinungen wie Long- bzw. Post-Covid erscheinen nicht ausreichend erfassbar; das Ausmaß der Spätfolgen und ihre Reversibilität sind noch nicht absehbar. Man weiß auch nicht, welche Mutationen des Virus noch entstehen. Auch der Nutzen von Schutz- und Abwehrmaßnahmen ist nicht so eindeutig erkennbar, wenn ich z. B. an die Impfdurchbrüche denke oder das teilweise wiederholte Auftreten der Erkrankung trotz vollständiger Impfung und Boosterung. Hilflosigkeit und Ohnmacht werden erzeugt. Gleichzeitig sind Menschen mehr auf sich gestellt und müssen für sich und ihre Angehörigen allein und mit nicht ausreichender Unterstützung sorgen wie z. B. im Zusammenhang mit dem Schulunterricht der Kinder. Ein hohes Maß an Improvisation wird gefordert. Zu denken ist an das Hamstern in der Nachkriegszeit oder Versorgungsmängel in der DDR.
Spielt auch social distancing noch eine Rolle?
Hans-Peter Selmaier: Durch social distancing kommt es zu Vereinzelung und Einsamkeit, sowie zu einer gewissen Bedrohung von Wir-Gefühl und Gemeinsinn. Offensichtlich ist die gesellschaftliche Spaltung in sehr konträre Lager mit spürbarer gegenseitiger Aggressivität und Feinseligkeit und weiterem Rückzug voneinander und Entsolidarisierung. Das alles stellt eine Belastung bis hin zur Traumatisierung dar. Verluste haben stattgefunden, finden statt und werden stattfinden. Hinzu kamen gespürte Zwänge und Einengungen durch nicht immer vollständig nachvollziehbare stets wechselnde staatliche Vorgaben, aber auch Versorgungsmängel und eklatante Organisationsmängel im Umgang mit der Krankheit, ihrer Vorbeugung und Behandlung, einschließlich Impfung, was Assoziationen zu Kriegs- und Nachkriegszeiten und ihren Wirrnissen aufkommen lässt.
Was kann man konkret tun, wenn man durch den Krieg in der Ukraine Angst oder Panik, sog. Kriegsangst hat?
Hans-Peter Selmaier: Bereits im Sinne einer Prophylaxe, aber auch im Rahmen einer „Eigenbehandlung“ ist es wichtig, den Medienkonsum einzuschränken und sich vielleicht nur ein- bis zweimal täglich zu informieren unter Beachtung der eigenen Befindlichkeit und der Belastbarkeit. Sinnvoll ist auch die Inanspruchnahme möglichst sachlicher und vertrauenswürdiger Informationsquellen.
Man sollte wieder einen geregelten Tagesablauf aufrechterhalten, wozu auch regelmäßige Mahlzeiten und vielleicht auch Rituale gehören. Entsprechend ist ausreichender Schlaf von großer Bedeutung.
Es gilt eigene Ressourcen zu aktivieren oder Neue zu entdecken, wozu auch Spiritualität und Religiosität gehören können. Günstig ist es in irgendeiner Form kreativ zu werden wie z. B. durch Malen oder Gestalten und Musizieren. An Stelle von Passivität und hilfloser Opferhaltung sollte eine aktive Haltung treten. Ganz wichtig ist es, wieder Kontakt zu Natur und Wald zu entwickeln. Aber auch Bewegung und Sport haben eine antidepressive und angstlösende Wirkung.
Kommunikation und Gemeinschaft sollten wieder verstärkt gepflegt werden trotz Corona, um weiteren Rückzug Öffnung entgegenzusetzen. Dabei sollte auch körperliche Nähe zu Mitmenschen wie z. B. Umarmungen wieder eine größere Rolle spielen, aufgrund der damit verbundenen Oxytocin-Ausschüttung. Aber auch der Kontakt zu Tieren kann sehr hilfreich sein.
Aber auch Meditationen jeglicher Art, Yoga und Qi Gong bzw. Tai Chi sind förderlich. Infrage kommen aber auch Entspannungsübungen, wie Atementspannung, Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung und die funktionelle Entspannung von Marianne Fuchs. Im Rahmen therapeutischer Maßnahmen kann man auf den „Sicheren Ort“ und die „Tresortechnik“ zurückgreifen, die aus der stabilisierenden Traumatherapie bekannt sind.
Man kann auch selbst in die Aktion kommen und gegen den Krieg bzw. für den Frieden demonstrieren oder Petitionen unterschreiben. Außerdem kann man Sachen spenden, sich an Ankerzentren wenden, Flüchtlinge aufnehmen und Hilfe anbieten etc..
Wichtig ist das “Entkatastrophisieren” von Angst und Panik im inneren Dialog. Es geht nicht real um Tod und Leben. So etwas kommt bei mir und anderen vor; es kann und darf sein; es geht vorüber und kann bewältigt werden. Dabei kann man im Sinne einer „Stressimpfung“ auf frühere bereits gemachte Bewältigungserfahrungen zurückgreifen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wenn Sie das Gefühl haben, damit allein nicht umgehen zu können, kann man sich an Verwandte oder Bekannte wenden bzw. gegebenenfalls an die Deutsche Telefonseelsorge. Telefonnummern der Deutschen Telefonseelsorge sind: 0800 / 111 0 111, 0800 / 111 0 222 und 116 123.
Ansprechpartner bei Angst und Panik ist auch das Hilfe-Telefon „Mutruf“. Den Verein erreicht man telefonisch unter 04191 / 27 4928 0.
Wenn man sich lieber schriftlich austauschen möchte, ist das auch per Chat bzw. Mail möglich unter online.telefonseelsorge.de.
Umgang mit Panikattacken und Ängsten von Kindern
Übungen zum Umgang mit Panikattacken
Wie gehe ich mit Kindern und dem Thema Angst und Krieg um?
Dr. Hans-Peter Selmaier
Dr. Hans-Peter Selmaier ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse sowie für Innere Medizin. Als Chefarzt leitet er die Parkklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen.
3 Antworten
Hallo Frau Schmitt, hallo Herr Dr. Selmaier,
Ihre Fragen sprechen mir aus der Seele. Genau das beschäftigt mich gerade. Kaum schaut man Nachrichten, kommt man von Corona über Krieg zur Klimakrise. Unsere schöne Welt und die Dinge, die gut laufen, haben überhaupt keinen Platz. Naja, “bad news are good news” sagt man doch immer so schön in der Medienbranche. Deshalb danke ich Ihnen besonders, dass Sie immer auch den Blick für das Stärkende behalten und Tipps und Übungen anbieten. Ja, es gehört natürlich immer auch Selbstverantwortung dazu, aber eine kleine Erinnerung an das, was man vielleicht in der Klinik gelernt hat, tut gut.
Danke für Ihr Engagement hier auf diesem Blog! Ich lese ihn gerne.
Viele Grüße
Peter
Hallo Peter,
vielen Dank für Ihren Kommentar und ihr positives Feedback zu unserem Blog! Es freut uns sehr, wenn er gelesen wird und die Beiträge hilfreich sind.
Alles Gute für Sie und liebe Grüße
Kathrin Schmitt