Interview: "Wir sprechen zu wenig über Einsamkeit"
Petra Kingsbury im Gespräch mit Angela Gräsel (YAEZ)
Immer mehr Menschen fühlen sich einsam – und trotzdem reden wir kaum darüber. Dr. Petra Kingsbury, leitende Psychologin der Heiligenfeld Klinik Waldmünchen, stellte sich im Gespräch mit Angela Gräsel von “YAEZ – Wir begeistern Talente” der Frage nach dem Warum.
Frage: Wieso fühlen wir uns manchmal einsam?
Dr. Kingsbury: Von Geburt an haben wir bestimmte soziale Grundbedürfnisse wie Nähe und Geborgenheit. Nahrung alleine reicht nicht, damit wir wachsen. Im Laufe des Lebens kommen viele weitere dieser sozial orientierten Bedürfnisse dazu – ob Anerkennung, Zugehörigkeit oder Orientierung. Wir können sie nur befriedigen, wenn wir in einer sozialen Gruppe sind. Kommt es zu einem Widerspruch zwischen dem, was wir uns an sozialen Beziehungen wünschen, und denen, die wir haben, kann im Ergebnis Einsamkeit entstehen.
Frage: Betrifft Einsamkeit immer mehr Menschen?
Dr. Kingsbury: Wie viel Nähe wir brauchen, ist zwar sehr individuell – trotzdem ist Einsamkeit gleichzeitig eine gesellschaftliche Entwicklung. Durch unsere veränderten sozialen Strukturen ist die Gefahr, dass Menschen einsam sind, größer als beispielsweise vor 50 Jahren. Wir wachsen weniger in großen Familienverbänden auf, es gibt immer mehr Singlehaushalte, wir wechseln häufiger unseren Wohnort. Das soziale Umfeld muss also oft selbst und neu geschaffen werden. Und Einsamkeit betrifft längst nicht mehr nur alte Menschen: Auch unter Jugendlichen wächst das Phänomen. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass sich 61 Prozent der befragten Jugendlichen teilweise oder dauerhaft einsam fühlen.
Frage: Hat die Corona-Pandemie zu dieser Entwicklung beigetragen?
Dr. Kingsbury: Jugendliche brauchen wie kaum eine andere Altersgruppe Gleichaltrige, da über sie viele Orientierungsprozesse in der Entwicklung stattfinden. Durch die Schulschließungen fehlte jungen Menschen der natürliche Zugang zu Gleichaltrigen. Aktuell können wir noch gar nicht richtig überblicken, was das für die nächsten Jahre bedeutet – also welche Probleme dieser Mangel an sozialen Kontakten für Jugendliche nach sich ziehen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass sich beispielsweise die Art, wie wir Kontakte knüpfen und aufrechterhalten, verändern wird.
Frage: Ist es deshalb gerade jetzt wichtig, mehr über Einsamkeit zu sprechen?
Dr. Kingsbury: Absolut! Menschen schämen sich oft dafür, einsam zu sein. Dabei wird vergessen, dass das kein persönliches Versagen, sondern ein gesellschaftliches Phänomen ist. Nur wenn wir offen darüber sprechen, können wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass dieses Gefühl für uns soziale Wesen normal ist und ganz viele betrifft – gerade in einer Zeit wie der Corona-Pandemie. Auch Schulen sollten daher mehr auf dieses Thema aufmerksam machen. Das gelingt zum Beispiel durch offene Gruppen, in denen man gegenseitige Unterstützung erfährt, oder Projekttage zum Thema Einsamkeit. Gibt es solche Angebote noch nicht, können sie auch von Schüler*innen selbst ins Leben gerufen werden.
Frage: Ab wann wird Einsamkeit zum Problem?
Dr. Kingsbury: Einsamkeit, die nur vorübergehend besteht, ist erst mal harmlos und etwas, das wir bestimmt alle schon mal erlebt haben. Sie wird dann zum Problem, wenn ein permanenter Leidensdruck entsteht. Unsere Stimmung kann sich dadurch so verändern, dass wir unser Leben nicht mehr als glücklich wahrnehmen. Dann kann sich das wie ein physischer Schmerz anfühlen – denn Einsamkeit und Schmerz werden im Gehirn auf die gleiche Art verarbeitet. Im Zweifel kann dieser Zustand zu Folgeproblemen wie Bewegungsmangel oder einem geschwächten Immunsystem führen und uns krankmachen.
Frage: Wie komme ich aus einem solchen Muster raus?
Dr. Kingsbury: Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass ich als Mensch das Bedürfnis nach Nähe und Kontakt habe – und dass ich gleichzeitig etwas dafür tun muss. Man kann das Ganze mit einem Training vergleichen: Wenn ich mit Sport beginne, ist es am Anfang vielleicht unangenehm. Aber je öfter ich übe, desto mehr wird es zur Gewohnheit. Man kann Einsamkeit also versuchen weg zu trainieren, indem man regelmäßig Kontakt zu anderen sucht und sich zu Verabredungen zwingt. Dadurch werden soziale Beziehungen irgendwann zur Normalität.
Frage: Und wenn ich es trotzdem nicht alleine schaffe?
Dr. Kingsbury: Wenn ich meinen Leidensdruck selbst nicht mehr in den Griff bekomme, ist es wichtig, sich professionelle Hilfe zu holen. Am besten traut man sich zunächst jemandem an, der einen dabei unterstützt – ob Eltern, Lehrer*innen oder Ärzt*innen. Gemeinsam kann man nach Beratungsstellen suchen oder Kontakt zu Therapeut*innen herstellen. Viele Kliniken, wie beispielsweise die Heiligenfeld Kliniken, in denen ich tätig bin, bieten auch Jugendgruppen an, bei denen sich Jugendliche direkt melden können.