Dieser Zusammenhang ist heutzutage leider vielen nicht mehr bewusst – ein Umstand, der viele Gefahren mit sich bringt. Denn alles hat zwei Seiten, auch die Achtsamkeit.
Achtsamkeit als bloße Technik bedeutet in ihrer reinsten Form Gleichgültigkeit. Denn wer Achtsamkeit ohne ethischen Bezugsrahmen praktiziert, dem ist letztlich alles „gleich gültig“: Da hat Tod den gleichen Wert wie Leben, Gerechtigkeit bedeutet dasselbe wie Ungerechtigkeit usw. Von einer ins Extrem getriebenen transpersonalen Ebene aus betrachtet mag diese Perspektive stimmen, allerdings ist es dann auch eine unmenschliche.
Traditionelle Religionen beziehen zu diesem Paradox seit jeher eine klare Stellung, indem sie für das menschliche Handeln einen ethischen Bezugsrahmen schaffen. In der heutigen Zeit, in der viele Menschen ihre Spiritualität freier und ungebundener leben, braucht es daher von jedem Einzelnen ein verstärktes Bewusstsein, nach welchen Werten er seine Achtsamkeitspraxis ausrichtet.
Unsere vielerorts konsumorientierte Kapitalgesellschaft versucht gerade durch die Ausklammerung des ethischen Bezugsrahmens, aus Achtsamkeit ein Millionengeschäft zu machen. Achtsamkeit fungiert dann als Tool der individuellen Selbstoptimierung und Leistungssteigerung, während der Gedanke der Gemeinschaft und des verantwortungsvollen Miteinanders nicht mehr zählt. Dazu lassen sich zahlreiche Beispiele finden: So fliegen manche „Achtsamkeitspraktizierende“ nicht selten mehrmals im Jahr tausende Kilometer weit, um es sich in sogenannten „Retreats“ gut gehen zu lassen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie gerade nicht achtsam mit den Ressourcen unsere Erde umgehen. Oder Menschen „tarnen“ eine sehr egozentrische Selbstsicht als Achtsamkeit und verlieren dabei den Beziehungsaspekt unseres Daseins aus den Augen. Ihr Motto lautet dann: „Das ist jetzt aber dein Problem und steht nur in deiner Verantwortung!“
Dieses Verhalten hat mit der ursprünglichen Ausrichtung von Achtsamkeit nichts zu tun. Zudem geht es an der Wirklichkeit des Lebens vorbei, sich selbst aus allem herauszuhalten. Leben bedeutet Beziehung, und für Beziehung sind – jetzt sehr allgemein gesprochen – immer alle Beziehungspartner zu gleichen Anteilen verantwortlich.
Auch sollte uns bewusst sein, welche Folgen die „Vermarktung der Achtsamkeit“ heute hat. Um möglichst viel Gewinn zu generieren, wird Achtsamkeit in den Medien verklärt, gar zu einem Allheilmittel stilisiert, mit dem alles gut und schön und heil wird und jeder zu seiner Mitte findet, wenn er nur achtsam genug ist. Das ist aber nicht richtig! Gerade bei Menschen, die mit der Achtsamkeitspraxis beginnen, werden hier falsche Erwartungen geweckt, nicht selten mit dem Ergebnis, dass viele bald wieder „das Handtuch werfen“, da sie enttäuscht und frustriert sind.
Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen außerdem, dass die „klassische Achtsamkeitspraxis“ nicht bei jedem wirkt und manchmal sogar kontraproduktiv ist. Fünf bis zehn Prozent aller Menschen können durch Achtsamkeitsübungen unruhiger oder unzufriedener werden. Hier ist es gut zu wissen, dass die Haltung der Achtsamkeit auch auf andere Art und Weise praktiziert werden kann, wie zum Beispiel durch Gartenarbeit oder einen Spaziergang an der frischen Luft in der Natur. Solche Beschäftigungen stellen eine geeignete Alternative dar.