Unser Wissen um Ursachen und Schutzfaktoren von psychosomatischen Erkrankungen wie Burnout, Depression und Angststörungen ist mittlerweile sehr ausgereift. Wir verfügen über gute Möglichkeiten der stationären Behandlung und Prävention. Wir wissen, dass diese psychischen Erkrankungen Symptome von erhöhter Stressbelastung im Alltag darstellen und dass immer mehr Menschen aller Bevölkerungsschichten davon betroffen sind.
Aber wie wirkt sich eine psychische Erkrankung auf die Familie der Betroffenen aus? Was bedeutet sie für den Ehepartner? Welche Auswirkungen hat sie auf die Kinder?
Eine Beobachtung, die ich in den letzten Jahren als Bezugstherapeut in der Heiligenfeld Familienklinik Waldmünchen machen konnte, ist die, dass psychische Erkrankungen von Eltern sehr häufig typische Symptome und ausgleichende Verhaltensweisen von Kindern hervorrufen. Diese sind nur im familiären Zusammenhang zu verstehen. Ich konnte feststellen, dass Kinder nur zu bereit sind, sich dem erkrankten Elternteil tröstend zuzuwenden. Sie wollen etwas von der liebevollen Aufmerksamkeit zurückschenken, welche sie im Normalfall zu empfangen gewohnt sind. Dies ist zunächst auch nicht weiter problematisch. Eine schöne Geste der engen Verbundenheit zwischen Kind und Eltern, könnte man denken. Problematisch wird es erst, wenn dieser Zustand der Umkehrung des Gewohnten über eine längere Zeit anhält und beginnt, zur Dauereinrichtung zu werden. Wenn dann noch gewisse Risikofaktoren (Trennung/Scheidung, Alkohol, Verlust des Arbeitsplatzes) hinzukommen, besteht die Gefahr der Chronifizierung. Man spricht vom „parentifizierten“ Kind, also von der Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. Im Extremfall findet sich das Kind in der Lage wieder, sich um den elterlichen Haushalt (kochen, putzen usw.) sowie um den emotionalen Zustand des erkrankten Elternteils sorgen zu müssen. Langfristig führt dies dazu, dass eigene Bedürfnisse vernachlässigt werden. Solche Kinder wirken sehr ernsthaft, wie kleine Erwachsene. Verloren gehen die typischen Merkmale der Kindheit, das Unbeschwerte, Spielerische, Verträumt-Fantasievolle. Diese Kinder haben ein erhöhtes Risiko, im Erwachsenenalter selbst Burnout und Depression zu entwickeln.
Wie kann einer solchen Entwicklung entgegengewirkt werden?
Im Rahmen des stationären Settings der Familienklinik Heiligenfeld haben wir Erfahrungen mit therapeutischen Methoden sammeln können, mit denen die beschriebene Symptomspirale der Parentifizierung gestoppt und umgekehrt werden kann. Diese Methoden basieren auf Erkenntnissen der strukturellen Familientherapie und der tiefenpsychologisch orientierten Bindungstherapie. Dabei werden die Eltern angeleitet, sich mit ihren Bedürfnissen an andere Erwachsene, Therapeuten und Mitpatienten zu wenden. Die Kinder hingegen werden in ihrer Stützfunktion begrenzt und zur Kontaktaufnahme mit Gleichaltrigen hingeführt. Die Generationsgrenzen zwischen Eltern und Kindern werden dadurch verstärkt. Das verschobene Rollenverständnis kann somit beginnen sich zu verändern. Ein typischer Wendepunkt eines Therapieverlaufs tritt dann ein, wenn die Eltern wieder stark genug sind, sich den Bedürfnissen der Kinder zuzuwenden. Im besten Fall kann das Kind in den Armen des Elternteils „loslassen“ und den Tränen und der Überforderung der zurückliegenden Krisenzeit Ausdruck verleihen. Es darf wieder „nur“ Kind sein.
Autor: Christophe Witz, Bezugstherapeut der Heiligenfeld Klinik Waldmünchen