Co-Abhängigkeit – Wenn Beziehungen krank machen

Wenn Menschen von einer Sucht oder einer psychischen Erkrankung betroffen sind, erlebt auch das gesamte soziale Umfeld die Auswirkungen mit – von der Familie über den Freundeskreis bis hin zu den Arbeitskollegen. Diejenigen, die den Betroffenen sehr nahestehen, möchten so gut wie möglich unterstützen. Das geschieht teilweise auch deshalb, weil diese Menschen die erkrankte Person in einer bestimmten Weise brauchen oder nicht verlieren wollen.

Wenn sie zum Beispiel für die Kollegin Aufgaben übernehmen, weil sie betrunken zur Arbeit erscheint, für den Ehemann Alkohol kaufen, um ihn über das Wochenende zufriedenzustellen oder erneut die Spielschulden des Sohnes begleichen, spricht man von co-abhängigem Verhalten.

Was ist Co-Abhängigkeit?

Charakteristisch für co-abhängige Menschen ist, dass sie in Beziehungen die Bedürfnisse anderer Personen über die eigenen stellen. Diese Dynamik zeigt sich zum Beispiel oft, wenn eine Person von einer Sucht betroffen ist und die andere sich aufopfert, um zu unterstützen. Das klingt im ersten Moment loyal, ist aber langfristig schädlich für beide: Durch ihr Verhalten können co-abhängige Menschen unabsichtlich die Sucht fördern.

Der Begriff Co-Abhängigkeit entstand in den 1940er-Jahren und bezog sich ursprünglich auf Angehörige von alkoholabhängigen Menschen.1 Seitdem haben sich in der Fachwelt unterschiedliche Ansichten darüber entwickelt, was genau dieses komplexe Konzept ausmacht – eine einheitliche, wissenschaftlich anerkannte Definition der Co-Abhängigkeit gibt es nicht.2

Einige Expertinnen und Experten wenden das Konzept nicht nur auf Angehörige von Suchterkrankten an, sondern übertragen es auf psychische Erkrankungen wie Depressionen oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Einige betrachten das gesamte soziale Umfeld eines suchterkrankten Menschen als co-abhängig, für andere führt nicht jede Beziehung automatisch zu einer Co-Abhängigkeit. Umstritten ist auch, ob man die Co-Abhängigkeit selbst als eine Persönlichkeitsakzentuierung oder sogar -störung sehen kann, die sich durch eine krankhafte Abhängigkeit von einer anderen Person auszeichnet.3

In der aktuellen Suchtforschung wird der Begriff oft für jedes suchtfördernde Verhalten verwendet. Co-Abhängigkeit wird dabei neutral und ohne Schuldzuweisung verstanden – die nahestehenden Personen möchten eigentlich helfen. Häufig benötigen sie schließlich selbst Unterstützung, um sich abzugrenzen, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und gesunde Verhaltensmuster zu entwickeln.

Die drei Phasen der Co-Abhängigkeit

Untersuchungen der Familien von Suchterkrankten legen nahe, dass sich einige Verhaltensmuster trotz ganz unterschiedlicher Lebensgeschichten und Persönlichkeiten ähneln. So wird häufig von drei Phasen der Co-Abhängigkeit gesprochen, die allerdings nur als grobe Skizzen gesehen werden können und nicht in jedem Fall so auftreten müssen.

Beschützen
Zu Beginn einer Suchterkrankung halten viele Co-Abhängige an der Hoffnung fest, dass die Sucht aus eigener Kraft überwunden werden kann. Sie zeigen Verständnis, möchten für die Erkrankten da sein und sie vor den Konsequenzen ihrer Sucht beschützen, zumal sie oftmals ein ausgeprägtes Helfersyndrom haben. Das kann sich darin äußern, dass sie ihnen Aufgaben abnehmen und ihre Sucht vor anderen verheimlichen oder rechtfertigen. Den Suchterkrankten ebnet das den Weg, ihrer Abhängigkeit ungehindert nachzugehen.

Kontrollieren
Wenn die Sucht weiter fortschreitet, bestimmt sie zunehmend den Alltag. Co-abhängige Menschen versuchen, einen ausgleichenden Gegenpol zu bilden und die Sucht nach außen hin zu verbergen. Ohne wachsenden Leidensdruck verspüren die Suchterkrankten jedoch keine Motivation, gegen ihre Sucht anzugehen. Viele Co-Abhängige verfolgen außerdem die Strategie, den Konsum des Suchtmittels zu verhindern. Diese Kontrolle führt allerdings eher dazu, dass die Erkrankten das Suchtmittel heimlich zu sich nehmen, was deren Suchtdynamik noch verstärkt.

Anklagen
Nach längerer Zeit sind co-abhängige Menschen oft wütend oder resigniert, weil sich das Verhalten der Suchterkrankten nicht ändert. Sie begegnen ihnen ablehnend oder verächtlich, drohen oder machen ihnen Vorwürfe. Die emotionale Distanz wächst und die Erkrankten werden dafür verantwortlich gemacht, dass sie und ihre Bedürfnisse ständig im Mittelpunkt stehen. Verstärkt suchen sich die Co-Abhängigen Hilfe in der Familie und im Familienkreis. Einige sind ab einem gewissen Punkt nicht mehr bereit, die Suchterkrankten zu unterstützen, wobei schließlich Trennungstendenzen aufkommen.

Anzeichen von Co-Abhängigkeit in einer Beziehung

Bereits seit vielen Jahren werden co-abhängige Beziehungen erforscht, vor allem mit dem Fokus auf Co-Abhängigkeit bei Alkoholsucht. Trotzdem ist es schwierig, co-abhängigen Menschen allgemeingültige Verhaltensweisen zuzuschreiben – vor allem, wenn man das Konzept auch auf andere Kontexte überträgt. Häufig lassen sich folgende Merkmale oder „Symptome“ von Co-Abhängigkeit beobachten:

Übermäßige Opferbereitschaft: In co-abhängigen Beziehungen stellt eine Person ihre Bedürfnisse hinten an, um die der anderen Person zu erfüllen. Durch dieses Ungleichgewicht löst Co-Abhängigkeit Beziehungsstörungen aus.   

Kontrolle: Weil sie sich für das Wohlbefinden der anderen Person verantwortlich fühlen, versuchen co-abhängige Personen häufig, deren Gefühle, Entscheidungen und Handlungen zu kontrollieren.

Geringes Selbstwertgefühl: Co-abhängige Menschen leiten ihren Selbstwert oft aus der Anerkennung von anderen ab. Das kann Selbstwertprobleme und ein instabiles Selbstbild zur Folge haben. 

Konfliktvermeidung: Auch wenn ihr eigenes Wohlbefinden darunter leidet, vermeiden viele co-abhängige Menschen bis zu einem gewissen Punkt Konflikte, um die Beziehung nicht zu gefährden.

Dauerbelastung: Co-Abhängigkeit führt oft zu einer toxischen Beziehung, die auch von Gewalt und Missbrauch geprägt sein kann. Zu den Herausforderungen im Alltag kommen Wut, Hoffnungslosigkeit, Scham, Schuldgefühle und unter Umständen auch Existenzängste. In Folge dieser Dauerbelastung entwickeln viele Co-Abhängige Schlafstörungen, Migräne, Magenbeschwerden, Angstzustände oder Depressionen. Mitunter greifen sie selbst auf Suchtmittel zurück.

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Nicht alle Angehörigen oder Nahestehenden sind als co-abhängig zu bezeichnen. Ihre Belastungen und ihr Engagement sind zu würdigen. Sie brauchen Verständnis und Unterstützung, anstatt in Frage gestellt oder verunsichert zu werden. Sie können einen positiven Einfluss auf die erkrankten Menschen haben.

Hans-Peter Selmaier, Stellvertretender Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Parkklinik Heiligenfeld

Co-Abhängigkeit bei Borderline

Menschen, die von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung betroffen sind, erleben häufig intensive Emotionen, instabile Beziehungen und ein tiefes Gefühl der Leere. Auch Menschen, die ihnen nahestehen, können co-abhängiges Verhalten zeigen: Sie neigen dazu, die Schwankungen der Erkrankten aufzufangen und zu managen. Dabei übergehen sie oft ihre eigenen Grenzen, um zu helfen und Harmonie herzustellen.

Diese Dynamik kann auch bei Co-Abhängigen zu ständigen emotionalen Höhen und Tiefen führen – und langfristig zu Erschöpfung und immer stärkeren Ungleichgewichten in der Beziehung. Ähnliche Beziehungsstörungen durch Co-Abhängigkeit lassen sich auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen beobachten. 

Co-Abhängigkeit bei Kindern

Von Co-Abhängigkeit bei Kindern spricht man, wenn sie eine übermäßige emotionale Abhängigkeit von einem oder beiden Elternteilen entwickeln. Solche Beziehungsmuster können entstehen, wenn Eltern ihre Bedürfnisse oder Probleme auf ihre Kinder projizieren – unter anderem in Familien, die von Sucht oder psychischen Erkrankungen betroffen sind. In solchen Situationen fühlen sich viele Kinder verantwortlich für das Wohlbefinden ihrer Eltern, übernehmen selbst die Elternrolle und werden „parentifiziert“.

Wenn Kinder dabei ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen keinen Raum geben können, kann das langfristig ihre emotionale und soziale Entwicklung beeinträchtigen und etwa zu einem geringen Selbstwertgefühl, Angstzuständen, Depressionen oder Schwierigkeiten in Beziehungen führen. Sie verlieren Lebendigkeit und Kreativität.

Co-Abhängigkeit bei Müttern

Co-abhängige Mütter bauen eine übermäßige emotionale Abhängigkeit zu ihrem Kind auf und vernachlässigen dabei ihre eigenen Bedürfnisse. Sie neigen dazu, die Verantwortung für das Wohl ihres Kindes vollständig zu übernehmen und zeigen extreme Fürsorge und Kontrolle. Oft geschieht das aus einem tiefen Wunsch heraus, gebraucht zu werden und das Beste für das Kind zu tun.

Langfristig kann das jedoch für Mutter und Kind schädlich sein: Dem Kind kann es schwerer fallen, Selbstständigkeit zu entwickeln und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Bei der Mutter können Erschöpfung und Frustration damit einhergehen, dass sie zu wenig für sich selbst tut.

Co-Abhängigkeit bei Narzissmus

In einer co-abhängigen Beziehung mit einem Menschen, der eine narzisstische Persönlichkeit hat, entwickelt der Partner oder die Partnerin häufig unterordnende, unterstützende und selbstaufopfernde Verhaltensweisen und passt sich an, um die Bedürfnisse und Erwartungen der oder des anderen zu erfüllen. Diese Dynamik wird auch als Co-Narzissmus bezeichnet. Co-narzisstische Personen bringen oft ein hohes Maß an Empathie und ein starkes Harmoniebedürfnis mit, was sie besonders „anfällig“ für narzisstische Partnerinnen und Partner macht.

Viele co-narzisstische Personen unterdrücken ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle, um Konflikte zu vermeiden und die Beziehung aufrechtzuerhalten. So entsteht ein Ungleichgewicht, bei dem der Partner oder die Partnerin die dominierende Rolle einnimmt und sie selbst zunehmend an Selbstwertgefühl verlieren. Letztlich können sie den Narzissten nicht genügen, so dass diese sich von ihnen abwenden. Entstehende Verzweiflung kann schließlich auch bei ihnen zu Depressionen oder Angstzuständen beitragen.

Hilfe bei Co-Abhängigkeit

Wie kann es Betroffenen gelingen, aus dem Kreislauf der Co-Abhängigkeit auszubrechen? Ein erster, aber oft besonders schwieriger Schritt ist es, sich der ungesunden Beziehungsdynamik bewusst zu werden und offen damit umzugehen. Auf dem Weg dahin, das richtige Gleichgewicht zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge zu finden und gesunde Beziehungen aufzubauen, können Betroffene auf unterschiedliche Weise Hilfe finden.

Selbsthilfegruppen

Spezialisierte Selbsthilfegruppen für Co-Abhängige schaffen die Möglichkeit, regelmäßig mit anderen Menschen in ähnlichen Situationen in Kontakt zu treten. Diese Gemeinschaft bietet beste Voraussetzungen, in einem geschützten Umfeld Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig zu stärken. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit gibt es in Deutschland aktuell rund 100.000 Selbsthilfegruppen zu unterschiedlichsten gesundheitlichen und sozialen Themen. Allein rund 7.000 davon richten sich speziell an Alkoholabhängige und deren Angehörige4. Die passende Selbsthilfegruppe kann über entsprechende Portale gefunden werden. Als erste Ansprechpartner und Vermittler bieten sich aber auch Beratungsstellen an, die anonym per Telefon oder Mail kontaktiert werden können.

12-Schritte-Programm für Co-Abhängige

Das 12-Schritte-Programm ist ein strukturiertes Modell, das ursprünglich von den Anonymen Alkoholikern entwickelt wurde und nun abgewandelt und für Co-Abhängige angewendet wird. Die zwölf aufeinanderfolgenden Schritte des weltweit verbreiteten Programms können Betroffenen helfen, ihre Situation zu erkennen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Ein wesentlicher Bestandteil des Programms ist eine Sponsorin oder ein Sponsor, die oder der den Betroffenen ständig zur Seite steht.

Psychotherapie

Eine spezialisierte Therapie bei Co-Abhängigkeit kann viel dazu beitragen, tief verwurzelte Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern. Die Psychotherapie bietet einen sicheren Raum, um über die eigenen Erfahrungen zu sprechen und neue Wege im Umgang mit Beziehungen zu erlernen und sich selbst weiter zu entwickeln. In den Heiligenfeld Kliniken bieten wir maßgeschneiderte Therapieprogramme an, die auf die individuellen Bedürfnisse unserer Patientinnen und Patienten abgestimmt sind.  

Hilfestellungen und weiterführende Inhalte

Für Menschen, die von Co-Abhängigkeit betroffen sind, gibt es verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten.

Erfahrungsbericht einer Patientin

Auf dem Weg zu sich selbst: Eine Patientin erzählt von ihrer Erfahrung mit Co-Abhängigkeit und der Therapie in den Heiligenfeld Kliniken.

Therapieangebot der Heiligenfeld Kliniken

Mehr über unser ganzheitliches  Therapiekonzept in den Heiligenfeld Kliniken erfahren Sie in unserem Prospekt. 

Was Angehörige wissen wollen

Erfahren Sie mehr darüber, wie man als Angehörige/r eines psychisch erkrankten Menschen mit der Erkrankung umgehen kann.  

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Fachlich geprüft durch Hans-Peter Selmaier

Hans-Peter Selmaier ist Stellvertretender Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Parkklinik Heiligenfeld

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