Die Beschäftigung mit dem Konzept der „Hochsensibilität“ hat insbesondere in den vergangenen 10 bis 15 Jahren deutlich zugenommen, einhergehend mit zahlreichen Buchveröffentlichungen, der Gründung von Vereinen und Instituten sowie einer Vielzahl von Internetseiten, Foren, etc. Den meisten Menschen wird der Begriff bereits begegnet sein – doch was ist hierunter eigentlich zu verstehen?
Hochsensibilität kann als Persönlichkeits- oder Wesensmerkmal verstanden werden. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 15 – 20 Prozent der Menschen im Vergleich zur Mehrheit der Bevölkerung Informationen und Reize intensiver aufnehmen und tiefer verarbeiten. Sie nehmen mehr wahr, zeigen eine erhöhte Empathiefähigkeit und Gewissenhaftigkeit, sind mitunter kreativer, haben eine lebendigere Vorstellungskraft und eine ausgeprägte Intuition. Etwas profaner könnte man sagen: Sie sind „offener“ als Menschen, denen dieses Merkmal fehlt.
Die Kehrseite dessen ist oftmals eine raschere Sättigung der Informationsaufnahme und -verarbeitung bis hin zu einer Reizüberflutung und dem dringenden Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe. Aktuelle Theorien gehen davon aus, dass Hochsensibilität angeboren ist, bei Männern und Frauen gleichhäufig zu finden sowie auch unabhängig von Ethnie und kulturellem Hintergrund. Und sie ist nicht erst im Erwachsenenalter „beobachtbar“ oder „ausgebildet“. Hochsensible Personen wachsen mit dieser Eigenschaft auf, tragen sie von Anfang an in sich, was für eine gesunde Entwicklung gewisse Risiken birgt.
Die erhöhte Empfindsamkeit hochsensibler Menschen zeigt sich insbesondere im zwischenmenschlichen Kontakt. Kinder, die auf Zuwendung und Unterstützung durch ihre Bezugspersonen angewiesen sind, besitzen bereits ohne die Eigenschaft der Hochsensibilität eine ausgeprägte Wahrnehmung und ein feines Gespür für die Stimmungen um sie herum. Im Falle der erhöhten Empfindsamkeit verstärkt sich dies noch.
Fehlt der Bezugsperson hierfür das Verständnis, kommt es oftmals zu ablehnenden oder sogar abwertenden Reaktionen, die das Kind auch im Freundeskreis, beim Eintritt in die Schule, in ähnlicher Weise erleben mag. Die Eltern mögen den Versuch unternehmen, das Kind von seiner Sensibilität zu befreien, es hiervon zu „heilen“ und abzuhärten, was das Erleben von „Ich bin nicht normal“ und „Ich gehöre nicht dazu“ intensiviert. Das Resultat sind oftmals tiefe Selbstwertzweifel, Gefühle der Ablehnung und „krankhaften Andersartigkeit“, nicht selten im späteren Leben auch verbunden mit der Entstehung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen.
Hilfreich wäre es, die Möglichkeit der Hochsensibilität bereits während der Erziehung im Blick zu haben, um den Heranwachsenden durch liebevolle Zuwendung und Verständnis für die Besonderheit zu unterstützen und zu bestärken.
4 Antworten
Das Letzte setzt den wachen, projektionsfreien Blick der Erziehenden für den Menschen voraus, den sie auf ihrem Lebensweg begleiten dürfen…
Vielen Dank für diese kurze Einführung in die Thematik. Ich werde den Text ausdrucken, um ihn bei Bedarf Leuten in die Hand zu geben, die meine Tochter (oder mich) seltsam finden. Ich wünschte mir, es gäbe einen Weg, dass solche Besonderheiten der Kinder auch in der Schule berücksichtigt würden. Aber dafür bräuchte es eine schriftliche Diagnose und die langwierige amtliche Feststellung eines speziellen “Förderbedarfes”. Meistens weicht man wohl in der Praxis auf “Asperger” aus. Aber wird das der Problematik und vor allem den betroffenen Kindern gerecht? Ratlose Grüße aus Berlin
Liebe Karin Kahl, da hilft nur ein Kampf der Eltern für das eigene Kind. Sich schützend vor sie zu stellen im Dialog mit anderen Kindern, Eltern und Lehrern und ein immer währender Hinweis auf die Andersartigkeit, die meiner Meinung nach nichts Pathologisches sondern etwas Besonderes hat, daher auch keine “schriftliche Diagnose” benötigt. Im Gegenteil: eine Pathologisierung stellt ein Kind/einen Menschen in eine Ecke/Schublade, aus der es/er nur noch schlecht hinaus kann und die dann in eine psychische Erkrankung führen könnte. Es ist wichtig, das Kind innerhalb der Familie zu stabilisieren und es deutlich spüren zu lassen, dass es gerade in und wegen seiner Individualität geliebt wird. Das gibt Kraft für die Begegnung mit der Außenwelt. Von Herzen kommende Grüße aus Heiligenzell
Gerade das hat bei uns in der Vergangenheit das Problem eher verschärft. Im System Schule ist Raum für Andersartigkeit schlichtweg nicht vorgesehen. “Könnte ja jeder behaupten, sein Kind wäre was Besonderes” – das ist da noch die vornehmste Antwort, die man erwarten kann. Meiner Tochter wurde die Schuld am schlechten Klassenklima gegeben, weil sie immer schrie, wenn andere Kinder sie traten oder ihren Kopf gegen die Wand stießen. Da hilft nur die Flucht, denn einen Machtkampf mit der Schule wird man nie gewinnen. Das Ende vom Lied ist ein depressives Kind, da kann man es zu Hause bestärken wie man will. Bei uns leidet die ganze Familie immer noch an den Folgen.